Freitag, 21. September 2012

Wolf-Dieter Storl über den Brunnen der Erinnerung

Foto (c) Björn Gaus
Mythen sind vielschichtig, vieldeutig und tiefgründig. Mythen sind sinnstiftend gerade dort, wo der rationale Diskurs und die wissenschaftliche Analyse keine Antworten geben können. Unser Kommen und Gehen als verkörperte Wesen, das Schicksal des Einzelnen wie das der Kollektive, und die Merkwürdigkeiten des Lebens, des Geborenwerdens und Sterbens, stellen uns vor Fragen, welche sich mit der naturwissenschaftlichen Methode nur unzulänglich beantworten lassen. Das ist notwendigerweise so, denn die Wirklichkeit ist weiter und tiefer als unsere Wissenschaft, als unser beschränkter Verstand – und der Computer macht uns nicht unbedingt weiser. Diese Wissenschaft wird zu Recht als reduktionistisch bezeichnet.

Jedes Volk, jede Ethnie, jedes Zeitalter hat seine Mythen. Diese sind nicht Produkte einer überbordenden künstlerischen Fantasie oder des wild gewordenen Denkens. In ihnen findet sich nichts Abstraktes. Sie wurzeln in der Natur, in den Bergen, Wäldern, Flüssen und Meeren, des Landes, in denen sich die Ethnien jeweils befinden. Sie sind bevölkert von den Tieren, die da durch diese Landschaft streifen, sowie den ätherischen und astralen Wesenheiten, welche die Hellsichtigen und Schamanen dort wahrnehmen. Sie prägen Geist und Gefühle. Mythen sind – wie die australischen Ureinwohner es wohl sagen würden – der Traum des Landes. Die Mythen entstehen aus dem Dialog zwischen den Menschenseelen und der Naturseele. Sie sind Ausdruck all dessen was sich da ereignet und ereignen kann; sie enthalten Urerinnerungen eines Stammes. Die vielschichtigen Bilder und bunten Geschichten, die uns die Mythen bieten, befriedigen die Seele der Menschen und helfen ihr eine Heimat auf dieser Erde finden. Die Menschen tragen – wie es Carl G. Jung formulieren würde – die Mythen mit sich in ihrem kollektiven Unbewussten.

Die germanischen Mythen, über die Ralph Metzner in seinem Buch Der Brunnen der Erinnerung nachsinnt, gehören den indigenen Völkern Mittel- und Nordeuropas – den Angelsachsen, Holländern, Belgiern, Deutschen, ebenso wie den Skandinaviern. Die Völkerwanderung trug sie über den Rest Europas. So sind  auch die Franzosen (Franken), Spanier (Goten, Vandalen), Italiener (Langobarden), Russen (Goten, Wikinger) und andere, Erben der Geschichten, die sich um Donar (Thor, Thunar), Baldur, Freya, Freyr, Odin (Wodan, Woden), die Zwerge und Riesen, die Zauberer und Weißen Frauen, die Weltenschlange und die magischen Tiere ranken. Auch die Nachfahren derjenigen, die in Amerika, Australien, Südafrika und anderen weit entfernten Gebieten siedelten, tragen unbewusst Nachklänge und Resonanzen dieser Mythen in ihrem kollektiven Unbewussten.
 

Die germanische Mythenwelt wurzelt, wie Metzner auch korrekt hervorhebt, in dem Weltbild der Megalithiker, einem eher mutterrechtlich orientiertem Bauernvolk, das für seine Steinsetzungen und Hünengräber bekannt ist. Die Germanen sind Ureinwohner; sie bilden den nördlichsten Ausläufer der europäischen Megalithkultur, die durch die einwandernden Hirtenvölker aus den westasiatischen Steppen allmählich „indoeuropäisiert“ wurden. Dennoch ist ungefähr ein Drittel des germanischen – das heißt, des englischen, deutschen, skandinavischen – Wortschatzes nicht indoeuropäischen Ursprungs, sondern enthält Wörter, die aus einer untergegangenen indigenen Sprache stammen. Die Mythenwelt dieser Ureinwohner ist ebenfalls uralt; sie hat sich über Jahrtausende entwickelt und auch verändert. Der Glaube und die Sagen der Germanen zur Zeit des Römers Tacitus waren sicherlich anders als tausend Jahre später zur Zeit der Wikinger und Waräger. Wo einst der Donnergott (Donar) als blitztragender Befruchter der Erdgöttin und Häuptling der Götter eine Rolle spielte, so wurde er in der spätgermanischen Zeit zum „Sohn“ Odins herabgestuft. Odin selber machte Wandlungen durch: Der wandernde Zauberer, schamanische Grenzgänger und Führer der Toten wurde in Zeiten der Völkerwanderung und besonders bei den Wikingern zum Anführer der Krieger und Berserker. Für die Bauern blieb er unheimlich, sie bevorzugten den Donnergott, dessen Wort man trauen konnte und der sie vor ihren Feinden den elementaren Riesen, vor Frost und Unwetter, beschützte.

Ralph Metzner hat das Thema der Mythen der alten germanischen Götter neu für unsere Zeit erfasst. Es ist notwendig, da sie einen Teil unserer kollektiven Seele ausmachen und uns zugleich den Schlüssel zu den Imaginationen und Kräften der hiesigen Natur geben. Die Göttermythen verbinden uns mit den Archetypen, die unsere Seele sowie die äußere Natur bevölkern, und mit den Ahnen, die noch in uns leben und uns hilfreiche Ahnungen spenden Uns mit den Ahnen und Vorfahren versöhnen ist eine wichtige Angelegenheit, wenn wir nicht entfremdet von unseren Wurzeln und der Geistigkeit unserer natürlichen Umwelt leben wollen.


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Die Mythen, die einst die Lebensgrundlage der germanischen Völker ausmachten, wurden öfters angegriffen. Die christlichen Missionare erklärten sie zu Irr- und Aberglaube und versuchten sie mit einer völlig fremden Bilderwelt zu ersetzen; die alten Götter wurden zu Teufeln. Die Inquisition wütete gegen die letzten Überreste des indigenen Schamanentums, der zum Teil in diesen Mythen wurzelte, und die rationelle Aufklärung des 18. Jahrhunderts verachtete die alten Überlieferungen und das ländliche Brauchtum als hoffnungslos rückständig. Vernichtend für dieses mythische Erbe wurde in der jüngeren Vergangenheit jedoch die Verbindung mit der Ideologie der Nationalsozialisten. Es wird behauptet, es sei die Quelle dieser Weltanschauung gewesen und deshalb seien die germanischen Göttermythen an sich verwerflich. Sie führten direkt zu Rassismus und Vernichtungslagern. Diese Pauschalanklage ist nicht nur stark vereinfachend, sondern schlichtweg stupide. Wie Géza von Neményi in seinem Buch Heilige Runen hervorhebt, darf man „aber nicht vergessen, dass der Nationalsozialismus tatsächlich die meisten seiner Element dem christlichen Rom entliehen hatte, nicht dem heidnischen Germanischen, und dass die Verwendung von germanischen Symbolen schon in den 20er-Jahren des letzten Jahrhunderts eine Mode geworden war, die zum Beispiel auch linke Strömungen erfasst hatte.“ Rassismus war den indigenen Germanen ein völlig fremder Begriff. Der Gedanke der überlegenen „arischen“ Rasse hat seine Wurzeln im indischen Kastensystem; arya bedeutet edel und rein und bezieht sich auf die Eigenschaften der höheren Kasten. Der Begriff wurde willig von britischen Kolonialherren aufgenommen und wurde Bestandteil der pseudo-wissenschaftlichen, biologistischen Lehren des 19. Jahrhunderts und zuletzt mit in die nationalsozialistische Ideologie eingebaut. Auch das Hakenkreuz, auch wenn es in vielen Kulturen als Sonnensymbol vorhanden ist, ist nicht eigentlich germanisch; es wurde aus dem indisch-buddhistischen Kulturkreis als magisches Zeichen entliehen. Der „Hitler-Gruß“ ist alles andere als germanisch, er entstammt dem Salve Caesar – Hitler ließ grüßen wie für den römischen Caesar üblich. Diese Beispiele sollten genügen. In seinem Buch trägt Ralph Metzner dazu bei, dass die fatale Verbindung zwischen den nationalsozialistischen Wahnvorstellungen und der altüberlieferten indigenen germanischen Mythenwelt wieder zurechtgerückt wird.

Metzner beschäftigt sich mit der mythischen und mythologischen Bilderwelt der Seele. Die Archetypen C.G. Jungs, die Schriften Joseph Campbells, die Imaginationen der Alchemie, des Tarot, der Astrologie, die Meta-Logik der keltischen und  indianischen Mythologie, die Mythen der Großen Göttin, des Grünen Manns und vieles mehr hat er untersucht. Er hat schon lange gewusst, dass es sich dabei um Landschaften des Bewusstseins handelt und dass die Götter nicht einer vergangenen historischen Epoche angehören, sondern noch immer Teil unserer Seele und Teil der Ökologie sind. Für die Nachfahren der germanischen Völker ist es von heilsamer Bedeutung sich mit den tieferen Einsichten ihrer Ahnen zu befassen. Ralph Metzner gibt uns in diesem Buch einen Schlüssel dazu.

Wie anfangs gesagt, es gibt viele Möglichkeiten Mythen zu deuten. Die sehr persönlich gehaltene Deutung Ralph Metzners ist eine der interessantesten.


Wolf-Dieter Storl (aus dem Nachwort zu Ralph Metzner, Der Brunnen der Erinnerung)









Ralph Metzner: Der Brunnen der Erinnerung. Die mythologischen und schamanischen Wurzeln unserer Kultur




Übrigens: Ein ausführliches Leitbild des Arun Verlages findet man HIER...