Auf dem Lebensrad zum ganzen Menschsein reisen
Die Nachrichten sind in unseren Tagen wieder einmal ein Vergnügen der ganz besonderen Art. Woran mag es liegen, dass eine Welt, die von so vielen grundsätzlich des Denkens mächtiger Menschen bevölkert wird, von einer Krise in die nächste schlittert? Woran mag es liegen, dass wir unser Wissen, über das wir zweifellos verfügen, nicht weise anwenden, ihm sogar entgegengesetzt handeln? Wenn wir ehrlich sind, ist das nicht nur in der Politik und in der Wirtschaft so, sondern auch in unserem Alltag, in so vielen Entscheidungen, die wir treffen und bei denen man sich mit einigem Abstand fragen kann, ob wir sie getroffen oder sie unseren freien Willen untergraben und beherrscht haben. Müssten erwachsene Menschen nicht freiere und der Vernunft entsprechendere Entscheidungen fällen? Müssten wir denn nicht wirklich wissen, was wir tun, den ökologischen und wirtschaftlichen Herausforderungen unserer Zeit, den nicht enden wollenden Wünschen, die die Konsumwelt in uns weckt und den scheinbaren Bedürfnissen unserer auf der Streichelcouch geparkten Psyche klarer begegnen können?
Tatsache ist: Wir sind nicht wirklich erwachsen. Wir sind aber auch nicht im positiven Sinne kindlich, so dass unser Handeln von vorurteilslosem Staunen, unvoreingenommener Neugier und unschuldiger Freundlichkeit bestimmt wäre. Wir sind vielmehr von erschreckend infantiler Ego-Bezogenheit erfüllt, die stets den eigenen Vorteil sucht und dabei Verantwortung generell ablehnt. Wir kaschieren unsere Unsicherheit mit der plumpen Demonstration von Stärke und suchen gleichzeitig in unseren Religionen nach einem Ersatzpapi, der uns verspricht, dass alles wieder gut wird.
Kann es auch anders gehen? Können wir für uns selbst und für unsere Welt auf authentische Weise einstehen? Können wir Verantwortung übernehmen und entsprechend handeln?
Menschen, die wirklich erwachsen geworden sind und gemeinsam eine reife Gesellschaft bilden – das ist die große Transformation, die wir und unsere Welt benötigen. Der Ökonom David Korten spricht hier von einem notwendigen Übergang, der „vom Imperium zur Erdgesellschaft“ führen muss, während der Tiefenökologe und Theologe Thomas Berry es „The Great Work“ nennt – ein großes Werk, was uns bevorsteht und dem wir nicht ausweichen können, wollen wir nicht unsere gesamte Lebenswelt und die aller anderen Wesen verspielen.
Eine überlebensfähige Partnerschaft zwischen Mensch und Erde, kann nur von reifen und wahrhaft erwachsenen Menschen errichtet werden, denn nur diese sind in der Lage gesunde Beziehungen aufzubauen. Beziehungen zu sich selbst, zur eigenen Seele, zu anderen Menschen, zu anderen Lebewesen, zu den Elementen und den Kräften der Natur.
Schauen wir uns in der Welt um, sehen wir deutlich: Wenn wir weder zu unserer Seele noch zu unserer Umwelt eine gesunde Beziehung haben, fügen wir beidem unweigerlich großen Schaden zu.
Im Unterschied zu allen anderen Lebewesen findet der Mensch nicht automatisch seinen Platz in der Welt. Er erfährt seine Seele in Bezug zu Natur und Kultur – seine Seele „bildet“ sich im Spannungsfeld dieser beiden Einflüsse. So braucht der Mensch eine gesunde Natur, um selbst gesund zu sein. Und er braucht ebenso eine gesunde Kultur, die darauf ausgerichtet ist, seine Seele zu fördern und seine Persönlichkeit reifen zu lassen. Leider ist dieses persönliche Wachstum nicht das Hauptaugenmerk unserer Kultur. Unsere Gesellschaft ist nicht auf seelisches, sondern auf industrielles Wachstum geeicht. Statt zu reifen Erwachsenen werden wir zu auf ewige Jugend getrimmte Konsumenten erzogen, die die Bedürfnisse ihrer Seelen unterdrücken. So werden wahre Älteste immer seltener und das Erwachsenwerden immer schwieriger, weil niemand da ist, der als Mentor fungieren kann.
Bill Plotkin stellt in seinem Opus magnum „Natur und Menschenseele“ eine ganzheitliche und seelenzentrierte Entwicklungspsychologie vor, die verschiedene Lebensphasen berücksichtigt und den Menschen darin unterstützt, Entwicklungsaufgaben, die auf vorangegangenen Entwicklungsstufen nicht vollendet wurden, nun abzuschließen. Werden gewisse Stufen im Leben nicht abgeschlossen, bleiben wir weiter unreif, entwickeln sich Aspekte unserer Persönlichkeit nicht und wir werden zu willfährigen Opfern einer patho-adoleszenten Gesellschaft. Wir werden Teil eines Spiels, das einen viel zu hohen Einsatz fordert: Die Zukunft unseres Planeten und unserer Kinder.
Plotkin spricht von acht Stufen, die wir im Lebensrad, welches sowohl an indigene Traditionen als auch an den Kreislauf der Natur angelehnt ist, durchlaufen. Stufen, die aufeinander aufbauen und die einander brauchen. Jede Stufe entwickelt sich aus der vorherigen und braucht Menschen, die sich auf der jeweils folgenden Stufe befinden und entweder durch ihr eigenes Beispiel den Weg weisen können oder durch entsprechende Initiationsriten und zeremonielle Übergänge den Initianten dazu bringen, seinen eigenen Seelenweg zu finden.
Das Lebensrad enthüllt die Geheimnisse unserer menschlichen Reise: Wir werden unschuldig im Osten geboren, erscheinen wie die Sonne an einem neuen Tag. Wir werden im Süden verletzt, erhalten eine heilige Wunde, in deren Innerstem wir aber auch unsere Seelengabe entdecken. Dann geht unsere Reise weiter in den Westen, wo wir die Mysterien unserer Seele erfahren und besser verstehen, wo unsere jugendliche Persönlichkeit stirbt, wir wahrhaft erwachsen werden und eine echte Vision für unser Leben erhalten. Im Norden verwirklichen wir die Vision, die wir im Westen erhalten haben, leisten unseren Beitrag für die Welt und kommen dann in den Osten zurück und sehen alles neu, entdecken und kennen den Ort und unseren Platz darin – die Mysterien unserer Seele werden zu unserer wirklichen Heimat.
Besondere Aufmerksamkeit legt Plotkin auf die ersten drei Stufen: frühe Kindheit, mittlere Kindheit und frühe Jugendzeit. Hier werden die Fundamente einer gesunden Entwicklung gelegt. „Alles beginnt damit, wie wir Kinder aufziehen und Jugendliche begleiten“, schreibt er. „Es braucht ein Dorf – eine gesunde, öko-seelenzentrierte menschliche Gemeinschaft – um ein Kind gut aufzuziehen, aber es braucht auch ein gesundes Dorf, um Eltern hervorzubringen, die ein Kind gut aufziehen können. Und es braucht eine gesunde mehr-als-menschliche Gemeinschaft (die Gemeinschaft aller Lebewesen, aller Pflanzen und Mineralien), um ein gesundes Dorf aufzubauen. Wie Thomas Berry zeigt, braucht es einen gesunden, erblühenden Planeten und ein wildes Universum, um eine robuste menschliche Gemeinschaft hervorzubringen. Die Gesundheit des Ganzen stellt die Grundlage für die Gesundheit jedes einzelnen Individuums dar.“
Das eine bedingt das andere. Eine solche Gesellschaft bringt Individuen hervor, die ihren innersten Visionen, ihrer Seele folgen und damit weiter sowohl die Gesellschaft und Kultur als auch die Natur und den Kosmos bereichern. Diese Menschen arbeiten bewusst mit dem Universum zusammen, da sie wissen, wie prägend die menschliche Gegenwart für unseren Planeten ist. Sie sind sich ihrer Verantwortung bewusst und können diese auf reife Weise tragen. Ihre Imaginationskraft dient ihrer Seele und der Welt. Sie fragen sich: In was für einer Welt möchten wir leben? Welche Werte möchten wir unseren Kindern und Enkeln mit auf den Weg geben? Wie könnte unser Planet aussehen, wenn ein Großteil der Gesellschaft sich zu reifen Erwachsenen entwickelt? Und wie wird unser Planet aussehen, wenn wir das nicht tun?
Die Träume dieser Menschen können zu Botschaften des Wesentlichen in einer Welt werden, die ansonsten oft nur Interesse am Unwesentlichen zu haben scheint. Diese Menschen erträumen das Heilige, verwirklichen es in unserer Gesellschaft und werden so zu Mentoren für die, die dieses Heilige hier und jetzt in ihrem Alltag leben wollen, um die Fehler zu vermeiden, die uns alle vom Wesentlichen fort- und in die Krise hineinführen.
Diese Krise, in der wir uns momentan zweifellos befinden, fordert uns auf, unmögliche Träume zu träumen, um eine wirkliche Veränderung herbeizuführen. Wir müssen uns diese Veränderung vorstellen können und unseren Beitrag leisten.
Plotkin zitiert aus Bernard Shaws Theaterstück Zurück zu Methusalem, in dem die Schlange zu Eva sagt: „Du siehst Dinge und sagst ‚Warum?‘ Aber ich träume Dinge und sage ‚Warum nicht?‘.
Wir alle können dafür sorgen, dass Träume, die eine konsumorientierte Gesellschaft als unmöglich betrachtet, wahr werden. Wir alle können erwachsen werden und die Vision unserer Seele in der Welt verwirklichen, so dass auch unsere Kinder und Enkel noch ihre Visionen leben können.