Freitag, 15. Juni 2012

In Verbindung sein

Ein Interview mit Gerhard Popfinger
  
In der Dunkelheit im Kreis sitzen, schwitzen, reden, singen. Umfangen von Mutter Erde und mit Geistwesen, Krafttieren, Ahnen verbunden sein. Mit uns selbst und der Natur, dem Leben kommunizieren. Die Trommel hören, spüren. Teil des großen Liedes sein.
So arbeitet Gerhard Popfinger, Schwitzhüttenleiter aus Würzburg. Und dieser Weg ist nicht nur sein Beruf, sondern viel mehr. Dirk Grosser sprach mit ihm über Heilung, über Gott und Göttin, über Plastikschamanen und Tiefenökologie, über rotglühende Steine und einen Kreis, der alles Sein umfasst.


Kann eine uralte Tradition wie der Schamanismus unserer Moderne etwas Substanzielles sagen?
Schamanismus ist ja so etwas wie die Ur-Religion aller  Kulturen, ohne dabei die dogmatischen und absoluten Merkmale einer heutigen Welt-Religion zu besitzen. Mehr im ursprünglichen Wortsinne, wo ja "Religion" von lat. religare stammt, was soviel heißt wie "anbinden, zurückbinden", also die Rückverbindung mit dem Ursprung. Und was ist unser Ursprung, der Ursprung allen Lebens? Himmel und Erde, Licht und Materie, die Elemente Feuer, Wasser, Erde und Luft, Tiere und Pflanzen, von und mit denen wir leben, und unsere Mitmenschen in Form unserer Vorfahren, der Ahnen, und unseren Freunden, Verwandten und der ganzen Weltbevölkerung. Das sind die unmittelbaren Kräfte, die uns bewegen - nur ist uns das heute meist nicht mehr bewusst. Alle sprechen von Vernetzung, aber das natürliche Netz unserer Eingebundenheit ist uns verlorengegangen. Was bedeutet heute noch, ein "Kind der Erde" zu sein? Dabei ist es einfach nur Wahrheit! Ich glaube, dass sehr viele Anstrengungen, die heute für eine bessere Welt gemacht werden, deswegen ins Leere laufen – zumindest was die Breitenwirkung betrifft –, weil uns heutigen Menschen diese substantielle Anbindung an die Urkräfte des Lebens auf unserer Erde aus dem Bewusstsein verschwunden ist. So bedeutet Schamanismus in heutiger Zeit für mich in erster Linie Wieder-Erinnerung an die Verbundenheit allen Lebens, eine spürbare Anbindung an die Kräfte der Erde, und eine Ausbalancierung des fragilen Gleichgewichts unserer Umwelt wie auch unserer eigenen Innenwelt. Substanzielleres und Aktuelleres kann ich mir nicht vorstellen!

Was bedarf in unserer Gesellschaft der Heilung?
Ich glaube, was am meisten fehlt, ist das bereits angesprochene Bewusstsein unserer Verbundenheit, unseres Aufeinander-angewiesen-seins  und der gegenseitigen Abhängigkeit zwischen allen Bereichen des Lebens: Mensch und Erde, Mensch und Pflanzen, Mensch und Tiere, Mensch und Mensch. Man kann es auch Liebe nennen. Aber eine erwachsene Liebe, die aus Verantwortung und Einsicht gespeist wird. Es ist schon unglaublich, mit welchen Banalitäten sich viele Leute tagein-tagaus beschäftigen, während Kriege geführt werden, unzählige Menschen verhungern, die letzten Ressourcen unserer Erde verdreckt oder unwiederbringlich verbraucht werden usw. Gerade gestern habe ich gelesen, dass seit 1970 die weltweite Biodiversität um 30% abgenommen hat. Das heißt, dass 3 von 10 Pflanzen- und Tierarten bereits verschwunden sind - in 40 Jahren! Es ist ein abgedroschener Satz, aber wir müssen aus unserer tiefen Hypnose aufwachen und zum Wesentlichen des Lebens zurückkehren - oder vielmehr endlich vorangehen!

Ist der Rückgriff auf schamanische Praktiken, den man in der spirituellen Szene überall sieht, Zeichen eines heraufdämmernden „ökologischen Zeitalters“? Wäre das deine Hoffnung?
Den Ausdruck "ökologisches Zeitalter" würde ich lieber durch "bewusstes Zeitalter" ersetzen. Wenn wir unser Leben mit Bewusstsein durchleuchten, wird das, was heute als Ökologie bezeichnet wird und in weiten Bevölkerungskreisen schon fast wieder als "Spinnerei" gilt, einfach unmittelbare Normalität und Selbstverständlichkeit. Einfach nur bewusst zu sehen ist dabei oft genug: etwa solche Absurditäten, dass wir unsere gesamte weltweite Ackerfläche, etwa 10% der Erde, 2 bis 3 mal jährlich mit Giften besprühen, dass wir seit Jahrzehnten weltweit chemische und radioaktive Abfälle ungehindert ins Meer leiten oder dort versenken, oder dass wir weiterhin jede Minute (!) 28 ha Wald, etwa 40 Fußballfelder an der weltweiten Waldfläche roden, allein im Amazonas täglich 7000 ha, das kann jedermann auf Google Earth beobachten. Wenn genug Menschen wirklich realisieren, was das bedeutet, glaube ich an einen Wandel. Und wenn schamanische Praktiken dazu beitragen können, und das tun sie sicherlich, freu ich mich natürlich, aber es gibt zum Glück noch viele andere Wege, um aufzuwachen.

Wie steht der Schamanismus mit wissenschaftlichen Wegen wie z.B. der Tiefenökologie in Beziehung? Gibt es da einen Dialog oder zumindest Ansätze dafür?

Da muss man schon unterscheiden zwischen traditionellem Schamanismus und Neo-Schamanismus. Viele alte Kulturen, die für uns heute faszinierendes, geheimnisvolles und dabei funktionierendes Heilwissen haben oder hatten, haben durch ihre Lebensweise trotzdem ihre Umwelt zerstört oder sogar sich selbst die ökologischen Lebensgrundlagen entzogen. Da wird von Eso-Romantikern auch viel verklärt. Trotzdem gibt es diesen Weg des "Walk-in-balance", wie er v.a. dem indianischen Schamanismus zugeschrieben und auch in der Tiefenökologie aufgegriffen wird. Ich bin mit tiefenökologischen Theorien nicht so vertraut, aber für mich sind schamanische Erfahrungen der praktische und erfahrbare Unterbau für die mir manchmal etwas verkopft erscheinenden Theorien der Tiefenökologen.

Würdest du dich selbst als Schamanen bezeichnen?
Nein. Und nicht nur, weil auch die wenigsten indigenen Schamanen sich selbst so bezeichnen. Ich arbeite lediglich mit schamanischen Zeremonien und Techniken, aber auch mit modernem psychologischen Wissen der westlichen Welt, mit Advaita- und Zen-Aspekten und natürlich meinen eigenen Erkenntnissen über diese Welt. Am ehesten sehe ich mich noch in der Tradition der alten Mystiker, aber auch das Wort Regenbogen-Schamane gefällt mir. Da ist zwar auch wieder der Schamane drin, aber es meint einen heutigen Menschen, der funktionierendes Wissen aus vielen Kulturen gesammelt hat und es jetzt sinnvoll anwendet. Manchmal bin ich in meinen Seminaren auch Künstler, Zeremonienleiter, Seelsorger, Musiker (wenn auch eher laienhaft), Ekstatiker, Narr, Mentor oder einfach Mensch.
 
Manchmal scheint es mir, als sei Schamanismus das neue Reiki. Überall werden schamanische Kurse angeboten und jeder, der mal ein Wochenende auf eine Trommel gehauen hat, eröffnet gleich eine schamanische Praxis oder besser noch ein Institut. Ich habe das Gefühl, dass unter dieser immensen Quantität die Qualität leiden könnte. Wie siehst du das?
Ja, das erlebe ich auch so. Es gibt inzwischen viele Menschen in Deutschland, die ihre unzweifelhaft vorhandenen hellsichtigen oder heilerischen Gaben durch schamanische Techniken zum Erblühen bringen und nutzbringend anwenden. Aber es gibt wohl noch viel mehr, die nach einer erfolgreichen schamanischen Reise glauben, sie hätten jetzt die Weisheit mit Löffeln gefressen. Vom beliebten Spruch "Wir sind doch alle Schamanen" distanziere ich mich ausdrücklich - eine schreckliche Vorstellung! Wie auch immer: Es bleibt niemandem erspart, auf der Suche nach authentischen Erfahrungen, Heilung oder Wachstum ein Gespür für die wirkliche Qualität hinter einer Oberfläche voller "Federn, Fransen & Co" (so die Überschrift eines in der Connection veröffentlichten Artikels von mir) zu entwickeln.

Wie unterscheide ich als Hilfesuchender seriöse Praktizierende von den sogenannten Plastik-Schamanen? Wie finde ich „das Echte“ im Neo-Schamanismus?
An einem Plastik-Schamanen finde ich nichts Verwerfliches! Es bezeichnet doch nur den Mut eines Heilers, angestammte Grenzen seiner Tradition, Zeit oder Kultur zu übertreten und damit Selbstautorität zu erlangen. Dieser Begriff wurde von den konservativen Traditionalisten der Indianerbewegung geprägt, v.a. in der Lakota-Kultur. Dort herrscht derselbe Kampf zwischen Tradition und Moderne wie überall sonst auch in der Welt. Eigentlich sollten damit Schamanen verurteilt werden, die ihr Wissen in die westliche Welt tragen - was aber wiederum im Einklang mit vielen alten Prophezeiungen steht. Natürlich gibt es Mitläufer, Ausnutzer, Trickser und Täuscher. Nun, wo gibt es die nicht? Wie findet man das "Echte" bei Haustürgeschäften, bei Geschäftsinhabern, bei Priestern, bei Politikern, bei Künstlern, in der Liebe? Nichts und niemand kann uns die eigene Erfahrung, Intuition und auch Kritikfähigkeit ersetzen. Es ist immer unsere eigene rosarote Brille, die wir tragen, und wir haben sie selbst aufgesetzt...

Es gibt ja immer wieder Menschen, die sagen, dass man indigene Traditionen – wie z.B. die Schwitzhütte – nicht einfach aus ihrem kulturellen Kontext lösen und auf den Westen übertragen könne. Manche reden gar von „Diebstahl“ an den indigenen Völkern. Wie stehst du zu diesem Punkt?
Ich sehe durchaus diese Schwierigkeit, verschiedene kulturell geprägte Zeremonien oder ganze spirituelle Wege in unser westliches Bewusstsein zu übertragen. Deshalb machen wir auch keine "indianischen Schwitzhütten" oder "indianische Zeremonien". Wir spielen nicht fremde Kulturen nach, sondern öffnen funktionierende Heil- und Bewusstseinsräume. Dass die vielleicht ganz anders wirken als die, die ein indianischer Schamane in der Schwitzhütte öffnet, kann gut sein. Aber nur „genau das Gleiche“ zu tun, diesen Anspruch habe ich gar nicht. Unsere Schwitzhütten sind weltweit funktioniere Zeremonien, an denen jeder, unabhängig seines Glaubens, teilnehmen und heilsame Erfahrungen machen kann. Außerdem ist die Kultur des rituellen Schwitzens allem Anschein nach auch in Europa seit Jahrtausenden bekannt.  Die skandinavische Saunakultur ist ja nur das Überbleibsel davon. Auch kann man ja nicht wirklich von Diebstahl sprechen, wenn Schamanen nach Europa reisen und Europäer den sogenannten „roten Weg“ lehren, weil sie sich als Ausführende der alten Stammesüberlieferungen und -prophezeiungen sehen. Diese Prophezeiungen,  die es übrigens rund um den Globus gibt, besagen, dass das Wissen der indigenen Völker eines Tages dringend zur Überwindung einer großen Krise gebraucht werden wird. Ich für mich bin froh, mit diesem Wissen gesegnet zu sein. Es ist Teil meiner spirituellen Suche, solange ich denken kann, und  meine Berufung. Das ist natürlich nur meine innere persönliche Gewissheit, aber es hat mir Frieden und Heilung gebracht, und ich bin all meinen Lehrern, indigenen wie modernen, unendlich dankbar dafür. Und so geht es auch vielen anderen Menschen, die unsere Seminare und Schwitzhütten besuchen. Da ist ganz viel Wertschätzung und Würdigung für die Wurzeln wie auch für die Bewahrer und Überbringer dieser alten Traditionen. Heilwissen, heilendes und heiliges Wissen, sehe ich dabei aber unter keinen Umständen als persönlichen Besitz eines Menschen, einer Religion oder einer Kultur - auch nicht als meinen! Wie kann spirituelle Erkenntnis oder ein spiritueller Zugang Besitz sein? Interessanterweise sind die schärfsten und aktivsten Vertreter der "kulturellen Diebstahl"-These oft (nicht-spirituell interessierte) Weiße, die dafür Anerkennung von den Indianern bekommen, bei traditionellen Zeremonien zuschauen dürfen und vom Rande her Beifall klatschen...

Im Buddhismus entwickelt sich aus verschiedenen Strömungen ein spezifisch westlicher Buddhismus, der sich an der Lebenserfahrung der Menschen vor Ort orientiert. Glaubst du, dass so etwas auch im schamanischen Bereich geschieht?
Ja, dieser Bereich wird meist als Neo-Schamanismus bezeichnet. Die An- und Herausforderungen unserer Kultur, der Bewusstseinszustand unserer modernen Zeit und die Lebensweise der westlichen Kultur sind so fundamental verschieden von denen traditioneller indigener Völker, dass es gar nicht anders möglich ist, als dass sich eine neue Strömung von Schamanismus entwickelt, wenn wir diese Traditionen nutzbringend einsetzen wollen. Wir dürfen nie vergessen, dass die Form der vielen verschiedenen schamanischen Kulturen weltweit immer sehr stark von der jeweiligen Kultur geprägt ist. Aber es geht nicht um die Form. Es geht um den Inhalt, und das ist das Wissen um die Bewegung, Veränderung und Balancierung von reiner Energie. Wer das erst mal begriffen hat, kann jede Form beliebig verändern oder auch ganz weglassen. Schamanismus hat sich immer verändert, und wird sich immer weiter verändern, weil er auf Lebenswirklichkeiten aufbaut, sonst wird er museal. Moderne indigene(!) Schamanen haben z.B. manchmal keine Krafttiere mehr, sondern benutzen Düsenjäger, weil die viel stärker sind! Cola-Dosen gelten als Kraftobjekte, denn welche Marke hat weltweit mehr Kraft? Und ausgebaute Autositze in der Schwitzhütte verhindern Rückenschmerzen... So etwas gefällt mir!

Auf welche Überlieferungen oder Traditionen können wir im Westen bei dieser Re-Integration des Schamanismus zurückgreifen?
Natürlich auf alle weltweit, die noch lebendig sind, soweit sie, wie in der letzten Frage behandelt, bereit sind, ihr Wissen zu teilen. Lebendiges Wissen ist immer totem vorzuziehen. Erfahrungen mit schamanischem Wissen geben uns dann aber die Möglichkeit, auch in unseren eigenen kulturellen mitteleuropäischen Wurzeln zu forschen: bei den keltischen und germanischen Völkern und ihrem Wissen. Ich bin dabei aber sehr zurückhaltend. Das meiste, was mir da bisher begegnet ist, halte ich für Fantasy und geht auf die romantischen Wiederbelebungs-Strömungen des 19.Jahrhunderts zurück. Wir müssen uns damit abfinden, dass unseren eigenen Wurzeln durch die jahrhundertelange radikale Herrschaft des Christentums mit Schwert und Kreuz gründlich ausgerissen wurden und immer nur rudimentär nachvollzogen und ausgedeutet werden können, auch wenn das natürlich schamanische Kulturen waren. Das ist aber auch eine große Chance, heute unabhängig von kulturellen Prägungen eine zeitgemäße Form von Spiritualität zu finden, jenseits von Dogmatismus, aber voller individueller Möglichkeiten, eben so, wie wir Menschsein heute verstehen. Jeder hat seinen ganz eigenen individuellen und persönlichen Zugang zur Spiritualität, und erst, wenn wir im Allerinnersten angekommen sind, finden wir wieder das Gemeinsame. Dazu sind dann aber keine Worte mehr nötig... Das ist auch noch ein großer und wesentlicher Unterschied für mich zwischen traditionellem und modernem Schamanismus: nebst der Verbindung zu den vielen verschiedenen Ebenen des Lebens liegt heute auch ein großer Fokus auf unserem innersten Licht, dem Kern, dem Selbst, der Leere, dem Gottesfunken oder wie auch immer man es bezeichnen will. Darüber findet man in alten schamanischen Traditionen nur wenig.

Was bedeutet die Schwitzhütte für Dich ganz persönlich? Welche Erfahrungen waren/sind für dich beeindruckend?
Die Schwitzhütte ist für mich ein Ort der Heilung. Jede Schwitzhüttenzeremonie ist für mich Eintreten in den heiligen Raum, ein Stück weit sterben und zuletzt wiedergeboren werden, immer wieder neu. Hier habe ich meine ganze persönliche Geschichte aufgearbeitet, Traumata geheilt, alte Emotionen ins Fließen gebracht und befreit, Glaubenssysteme gelockert, mein traumatisches Geburtsmuster, das mich an die Grenze des Todes gebracht hat, aufgelöst, ich habe Verbindung zu Geistwesen gefunden, wegweisende Visionen gehabt, meinen Eltern vergeben, meine Liebe wiedergefunden, mich an vergangene Leben erinnert, wichtige Entscheidungen getroffen, meine Süchte aufgegeben, Vertrauen entwickelt, die Beziehung zu Mutter Erde wiederhergestellt, tiefe mystische Erkenntnisse über die Existenz empfangen, das Singen gelernt, gelacht, geweint, geschrien, bin still geworden, und habe nicht zuletzt meine physische Gesundheit wiederhergestellt. Reicht das?  ;-)

Welchen Einfluss hat das schamanische Weltbild ganz praktisch auf deinen Alltag? Wie real sind Geistwesen und Krafttiere? Welchen Einfluss haben sie auf dich?
All die schamanischen Erfahrungen, die ich im Laufe der Jahre gemacht habe, haben nebst der persönlichen Heilung mein Bewusstsein schon ziemlich verändert. Ich sehe häufig Energien hinter Dingen und Menschen, sodass ich oft "weiß", was irgendwo los ist. Dazu kommen Eingebungen und andere, teils eigenartige Informationen. Es ist aber nicht so, dass ich damit überflutet werde und ständig in anderen Welten lebe. Ich bin auch ein ganz normaler, recht bodenständiger Mensch mit Fehlern und Schwächen :-) Wenn es nötig ist, kann ich diese Ebenen anschalten, und in Zeremonien ist das sozusagen mein Arbeitsmodus. Es gibt da aber trotzdem so etwas wie einen Filter, den ich nur sehr begrenzt beeinflussen kann. Im Idealfall stelle ich mich als Kanal zur Verfügung, und wenn es nötig ist, kommen Informationen und Handlungsanweisungen, die ich rational manchmal nicht verstehe, denen ich aber aufgrund vieler positiver Erfahrungen vertraue. Dann arbeiten sozusagen meine Verbündeten oder Geisthelfer durch mich. Wer oder was das aber wirklich ist, weiß ich nicht. Es gibt dafür natürlich die ganze schamanische Fach-Terminologie und zugehörige Bilder, aber letztlich gehört das für mich zum Bereich des großen Unbekannten, des Großen Geheimnisses. Heute verstehe ich gut, wenn manche meiner Lehrer wie auch große Weise sagten: "Ich weiß, dass ich nichts weiß." Je weiter ich gehe, desto weniger verstehe ich - und das ist gut so! Alles nur Worte, Bilder, Versuche, das Unerklärliche zu umschreiben und damit die eigene Ohnmacht nicht spüren zu müssen... Meine Erfahrung ist: je mehr ich mich vertrauensvoll hingebe, umso besser geht es mir und meiner Umwelt. Aber das wird jetzt bestimmt auch wieder missverstanden werden. Deshalb sag ich lieber nichts... :-))

Du bietest ja nicht nur Schwitzhüttenzeremonien in Deutschland an, sondern organisierst und begleitest auch Visionssuchen in Nordschweden und Pilger- bzw. Medizinreisen nach Indien, Ägypten und Mexiko… Welche Erfahrungen machst Du an so unterschiedlichen Orten in deiner spirituellen Arbeit? Wie integrierst du diese Erfahrungen in ein großes und stimmiges Ganzes?
Einerseits kann man jede Erfahrung an jedem Ort machen und man müsste gar nicht reisen. Andererseits kennt jeder die Intensität und Erfahrungsdichte auf Reisen, gerade auch noch in gänzlich anderen Kulturen. Reisen erweitert grundsätzlich unser Bewusstsein, weckt unsere Sinne, aktiviert unser Denken und erweitert unser Erfahrungsspektrum. All das unterstützt per se unsere spirituelle Entwicklung. Dann gibt es natürlich vom schamanischen Aspekt her in jedem Land spezielle Erdenergien, Kraftorte, andere Spirits, usw. Ich mag viele Landschaften in Deutschland sehr gerne, aber mache immer wieder die Erfahrung, dass es in fast jedem anderen Land mehr Natur, mehr Wildnis und mehr lebendige Erdenergie gibt als bei uns. So unterschiedliche Erfahrungen wie die weite Wildnis Schwedens, die magische Energie in Mexiko, die bunte Intensität Indiens bringen mein Herz zum Singen, heben mein Energielevel an und hinterlassen unbenennbare, aber deutlich spürbare Spuren in meinem Sein. Zudem bringe ich ja viel von dieser Erfahrung zurück nach Deutschland. So befruchten sich die verschiedenen Weltteile gegenseitig.  Der Kulturaustausch durch Reisen war zu allen Zeiten der wichtigste Motor für die kulturelle und bewusstseinsmäßige Weiterentwicklung der Menschheit! Bauchgrimmen macht mir dabei aber schon das ökologisch bedenkliche Reisen mit dem Flugzeug. Ich hoffe dabei für mich, dass wir insgesamt gesehen mit diesen Reisen für die Welt durch das innere Wachstum der Teilnehmer mehr bewirken, als wenn wir sie unterlassen würden...

Ein weiterer Teil deiner Tätigkeit ist die Männer-Arbeit. Was ist dir daran besonders wichtig?
 

40 Jahre nach dem emanzipatorischen Aufbruch der Frauen stecken viele Männer mit ihrer Identität in einer Krise. Die alten überlieferten Werte unserer patriarchalen Kultur greifen nicht mehr - größtenteils sie sind entwertet, und der Rest ist vor die Wand gefahren. Auch wenn die Frauen ihren Teil der historischen Verantwortung mittragen, indem sie es nicht unterbanden: die männliche Kraft hat den Karren weltweit in den Dreck gefahren, und im Moment weiß keiner, wie er wieder rauskommen kann. Mit den alten Lenkmethoden funktioniert es nicht mehr, wie wir sehen, auch wenn alle weiter versuchen, es so zu machen wie schon immer... Es braucht also etwas völlig Neues auf dieser Erde, um die uralten Probleme zu lösen. Für mich ist das eine völlig neue Beziehung zwischen Mann und Frau, individuell wie kollektiv, in der von Gleichberechtigung nicht nur gesprochen, sondern sie auch gelebt wird. Ich nenne es die Rückkehr der Göttin. Ich habe noch kaum jemanden getroffen, der weiß, wie so etwas praktisch aussehen kann, so weit weg sind wir davon. Auch ich weiß es nicht - ich sehe nur, wie es nicht geht. Das ist ein riesiges Experiment und eine riesige Chance, die wir im Moment haben. Leider versuchen es die meisten Frauen, die für Gleichberechtigung eintreten, ebenfalls mit männlicher Kraft. Es gibt kaum starke Frauen in der Öffentlichkeit, die mit weiblicher Kraft wirken - alles Mannweiber mit Ellbogen, Leistungsdenken, Karrieredruck, Machtanspruch. Das macht mich müde, denn das sind doch die alten patriarchalen Kamellen, nur jetzt mit weiblichem Vorzeichen. Viele Frauen fühlen sich halt gut an der Stelle, weil es neu ist für sie - verlieren aber ihre Weiblichkeit noch mehr. Und die Männer? Die wiederum merken, dass die alten Bilder und Ideale hohl geworden sind. Sie fühlen, dass sie keine Verbindung zu einer authentischen männlichen Kraft haben.
Es gibt dafür auch kaum Vorbilder in unserer Gesellschaft. Authentische männliche Kraft beinhaltet eine klare Vision über einen Weg. Sie dient dem Weiblichen, dem Wachstum und Leben, ohne sich dabei zu verbiegen, aufzugeben oder in eine kindliche Sohn-Rolle abzugleiten. Sie schützt, setzt Impulse, führt, sorgt. Sie ist stark und sanft zugleich. Und sie begegnet der Göttin neben ihr ohne Angst, ohne Scheu, ohne Dominanz, mit Respekt, Offenheit und Verehrung, mit dem Wissen, dass sich in ihr das Geheimnis des Lebens verbirgt. Wer von uns Männern hat wirklich die Kraft und den Mut, als Gott neben der Göttin zu stehen? Wer ist wirklich bereit? Da braucht es soviel Heilung zwischen Mann und Frau. Nicht nur die Frauen sind verletzt, auch die Männer! Deswegen liebe ich die Männerarbeit. Wir öffnen uns anders im Kreis der Männer, zeigen uns, werden sichtbar, verwundbar, machen die Erfahrung von Brüderlichkeit, von Abenteuer, von In-die-männliche-Kraft-Kommen. Wir müssen nicht mehr anders oder besser sein, nur noch sein. Das geht weit über Stammtisch- und Fußballvereinskreise hinaus und öffnet Räume, die die meisten Männer nicht kennen, aber tief ersehnen - oft ohne es zu wissen. Männlichkeit finden wir bei Männern, nicht bei Frauen! Und so gewachsen und gestärkt können wir den Frauen dann ganz anders gegenübertreten... und endlich gemeinsam anfangen, in dieser Welt den großen Dreckshaufen aufzuräumen!

Und noch eine letzte Frage: Schwitzhütte, Medizinrad, Redestabrunden… All das findet im Kreis statt, und auch deine Webseite heißt „Kreiszeit“. Was bedeutet der Kreis für dich? Was ist Kreisbewusstsein?   Der Kreis ist eine Urkraft und deswegen auch ein Ursymbol des Lebens. Leben verläuft zyklisch in Kreisläufen: Tag und Nacht, der Sonnen- und Mondlauf, die Jahreszeiten, wir sprechen auch vom Kreis des Lebens, die Gestirne sind rund und immer sind wir auf dieser Erde von einem Kreis umgeben, wenn wir uns um unsere eigene Achse drehen. Das ist also wirklich unsere grundlegende Wahrnehmungswirklichkeit: das Leben ist rund. So ist es ganz naheliegend, dass beim Versuch, das Geheimnis Leben in ein Modell zu packen, bei indigenen Völkern ein Kreis entstand, wie z.B. beim sogenannten Medizinrad. Dieser Kreis, oft mit einem eingebundenen Kreuz, ist weltweit als Symbol verbreitet und schon in steinzeitlichen Höhlenmalereien gefunden worden. Wir haben den Namen "Kreiszeit" aus verschiedenen Gründen gewählt. Zum einen arbeiten wir natürlich mit diesem alten Wissen über Kreisläufe und Lebenskreise, die eben den Abend genauso enthalten wie den Morgen, Nacht wie Tag, und damit aufzeigen, dass dunkle Zeiten und Krisen ebenso zum Leben gehören wie Glücksphasen und Hoch-Zeiten. Zum anderen gibt es da noch etwas Geheimnisvolles, das wir Kreisbewusstsein nennen, und von dem auch Jesus in der Bibel (mit dem ich im Gegensatz zur Institution Kirche kein Problem habe) spricht: "Wo zwei oder drei in meinem Namen versammelt sind, bin ich mitten unter ihnen." Das meint das gemeinsame Bewusstsein, das in einem spirituell ausgerichteten Kreis entsteht, zu dem jeder seinen Teil beiträgt, das aber viel mehr ist als nur die Summe seiner Teile. Man kann es auch Gruppenintelligenz nennen, kollektives Bewusstsein, oder evolutionäre Intelligenz. Das gemeinsame Bewusstseinslevel im Kreis steigt weit über das hinaus, was für die meisten Menschen alleine möglich wäre. Da aber Bewusstsein die Eigenschaft hat, sich immer an der höchsten Ordnung auszurichten, geschieht auf ganz einfache und mühelose Weise Wachstum im Kreis für jeden Teilnehmer. Und natürlich geht es auch dabei wieder um Liebe, um das eine gemeinsame Herz. Oft tauchen auch Spiegelungen auf im Kreis, Schattenspiele, und können im geschützten Rahmen einer Zeremonie oder eines Seminars angeschaut und integriert werden. Am Ende eines Tages oder Wochenendes finden wir uns als Gruppe dann oft in einer Nähe, Vertrautheit und Freude wieder, die viele Menschen nicht einmal aus ihren engsten Beziehungen kennen, und die zutiefst heilsam wirkt. Ich kann mir keine schönere Berufung vorstellen, und bin heute zutiefst dankbar, solche Kreise initiieren zu dürfen, weil es einfach immer wieder eine Freude ist!

Vielen Dank für das Gespräch!
Danke ebenfalls - es war mir ein Vergnügen! 

Mehr von Gerhard Popfinger in seinem Buch: